(www.spoor.ch 09.02.2006)
Torino 2006 – Die russische Offensiv-Armada auf Goldkurs?
Die Sbornaja geht mit einer Mischung aus erfahrenen NHL-Profis und hungrigen Jungstars auf Titeljagd. Stimmt Teamgeist und Einstellung der begnadeten Akteure ist die Goldmedaille für die Russen durchaus in Reichweite.
Seit dem Zusammenbruch der UdSSR sandte Russland, mit wenigen Ausnahmen, immer nur junge und unerfahrene Mannschaften zu Weltmeisterschaftsturnieren. Die großen Superstars ließen sich lieber im Golfurlaub die Sonne auf den Bauch scheinen oder verbrachten ihre Zeit in den NHL-Playoffs. Bei Olympischen Spielen hingegen tritt die Russische Nationalmannschaft traditionell in Bestbesetzung an.
Seitdem die Russen bei Winterspielen in Aktion sind, war die Sbornaja nur ein einziges Mal nicht in den Medaillenrängen. 1994 in Lillehammer unterlag man im Spiel um Platz Drei der finnischen Auswahl mit 0:4.
Noch als Sowjetunion bestimmte man von 1956 bis 1988 das Eishockeygeschehen bei Olympia. Ganze sieben Goldmedaillen errang die UdSSR in neun Turnieren.
1992 sorgte schließlich ein Team der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) für den letzten großen Triumph der Sbornaja bei Winterspielen.
In Folge unterlagen die russischen Olympioniken bei den Wettkämpfen in Nagano 1998 in Finale der Tschechischen Republik mit 0:1 und 2002 in Salt Lake City langte es, nach einer 2:3 Niederlage im Semifinale gegen die USA, schließlich zur Bronzemedaille (7:2 gegen Weißrussland).
Um in Turin 2006 gegen die starke Konkurrenz bestehen zu können berief Teamchef Vladimir Krikunov eine Mischung aus namhafte Routiniers und hungrigen jungen Stars in die Mannschaft.
Die jahrelangen Probleme auf der Torhüterposition sollten diesmal auch von Tisch sein, denn mit Evgeni Nabokov (San Jose Sharks) hütet in Turin ein ausgezeichneter Schlussmann das Gehäuse der Russen. Nach dem Ausfall von Ausnahmegoalie Nikolai Khabibulin (Chicago) stieg der gebürtige Kasache zur unumstrittenen Nummer Eins im Kasten der Sbornaja auf. Nabokov wird, bei seinem ersten Auftreten für eine russische Mannschaft, versuchen in die Fußstapfen seines großen Idols Vladislav Tretiak zu treten.
Back Up Ilya Bryzgalov (Anaheim) befindet sich zwar auf dem Weg eine Starter-Position in einem NHL-Team zu ergattern doch dem 25jährigen fehlt es noch an der nötigen Routine. Der dritte Mann im Bunde verfügt über genügend internationale Erfahrung, doch Maxim Sokolov’s (SKA St. Petersburg) Auftritt bei der WM in Wien stößt russischen Eishockeyfans noch heute übel auf.
Das Herzstück der Sbornaja bildet, wie schon so oft, der Angriff. Neben den altbekannten NHL-Profis Alexei Kovalev (Montreal), Viktor Kozlov (New Jersey) und Alexei Yashin (NY Islanders) vertraut Teamchef Krikunov aber auch auf Spieler aus der heimischen Superliga. Alexander Kharitonov (Dynamo Moskau), Aleksandr Korolyuk (Vityaz Chekhov) und der kleine und quirlige Maxim Sushinsky (Omsk) geben ihr Debüt bei Olympischen Spielen. Gilt Kharitonov’s Einberufung eher noch als Überraschung, so war Sushinsky in den letzten Jahren sowohl unter besten Scorern als auch unter den Topverdiener in der Russischen Superliga zu finden. Auch Korolyuk gilt seiner Heimat als absoluter Spitzenspieler und kann zudem noch auf über 300 NHL-Spiele mit den San Jose Sharks zurückblicken.
Besonders gespannt ist man auf die jungen Nachwuchsstars der Sbornaja. Pavel Datsyuk ist mit 27 Jahren der Älteste der neuen russischen Garde. Der Detroit Red Wings Center zählt zu den überragenden Playmakern der NHL und hat aufgrund seiner magischen Hände und perfekten Schlittschuhtechnik von der neuen Regelauslegung stark profitiert. Den Flügelflitzern Maxim Afinogenov (Buffalo) und Alexander Frolov (Los Angeles) kommt die striktere Pfeifweise sichtlich auch entgegen. Beide erleben bei ihren Klubs die bislang beste Spielzeit ihrer Karriere und glänzen als effektive Scorer.
Ilya Kovalchuk hat gute Chancen zum zweiten Mal in Folge mit der Maurice „Rocket“ Richard Trophy (bester Torschütze der NHL) bedacht zu werden und verzückt die Fans in der Philips Arena von Atlanta, Abend für Abend, mit spektakulären Aktionen.
Den Kanadiern ist der 22jährige allerdings ein Dorn im Auge. Schon in der Zeit als sich Kovalchuk, noch bei Nachwuchs-Weltmeisterschaften, ständig die Torjägerkrone sicherte, eckte er bei seinen kanadischen Gegenspielern einige Male an. Kleines Beispiel gefällig: Bei den Junioren Weltmeisterschaften 2001 pumpte er schon auf dem Weg zu einem empty-net-Treffer die geballte Faust zu einer hämischen Jubelpose.
Doch die Provokation von „Wunderkind“ Sidney Crosby, Anfang dieses Jahres, setzte aus kanadischer Sicht dem ganzen die Krone auf. Nach einem harten Check von Kovalchuk revanchierte sich Crosby mit einem Stockschlag, welcher ihm eine Zwei-Minuten Strafe einbrachte. Im Powerplay versenkte Kovalchuk die Scheibe im Kasten der Penguins und deutete mit dem Finger auf den Jungstar in der Strafbank. Alles natürlich mit einem breiten Grinsen auf seinem Gesicht. Die Empörung in den kanadischen Eishockeymedien ging sogar soweit, dass ein Reporter meinte, man solle dem Russen den Arm brechen. Als ob die ewigen Anschuldigungen wegen seines angeblich irregulären Stocks nicht schon genug wären. Ein Duell gegen Kanada verspricht Brisanz und könnte zu einer sehr emotionalen Begegnung ausarten.
Nicht weniger emotional, wenn auch im positiven Sinn, lässt es Alexander Ovechkin von den Washington Capitals angehen. Der 20jährige gilt als heißer Calder-Trophy Anwärter (bester Neuling in der NHL) und bestimmt das Spielgeschehen im desolaten Team der Caps fast im Alleingang. Unglaublicher Speed, robustes physisches Spiel und ein genauer und harter Schuss sowie das gute Auge für den Mitspieler machen den Jungstar zum derzeit besten Rookie der NHL. Ovechkin ist aber auch defensiv durchaus wertvoll und seine Hingebung und Freude am Eishockeysport, sowie zahlreiche außerirdisch wirkende Moves, werden auch in Turin die Zuseher von den Sitzen reißen.
An seiner Seite wird, wie schon bei der WM in Wien, wahrscheinlich sein kongenialer Partner Evgeni Malkin auflaufen. Der 19jährige verzaubert derzeit noch die Russischen Superliga im Trikot von Metallurg Magnitogorsk, doch schon in der nächsten Saison soll es in Pittsburgh zur Fusion mit „The Next One“ Sidney Crosby kommen.
Solch eine Ansammlung an begnadeten Offensivkräften erschwert Trainer Krikunov natürlich die Entscheidung wer im Powerplay der Russen auflaufen darf. Der Nachfolger von Viktor Tichonov (auch als Dynamo Moskau Trainer) verfügt theoretisch über vier effektive Überzahlformationen.
Dabei sind zahlreiche namhafte Akteure in Turin gar nicht mit von der Partie. NHL-Veteran Alexei Zhamnov (Boston) musste verletzungsbedingt passen und für Mannschaftskollegen Sergei Samsonov, Vycheslav Kozolv (Atlanta), Alexander Mogliny (von New Jersey ins Farmteam abgeschoben) und den aktuellen Topscorer der russischen Superliga Alexei Morozov gab es keine Einberufung. New Jersey Angreifer Sergei Brylin darf den Ausflug nach Turin als Edelreservist mitmachen, doch er wird nur im Falle einer Verletzung in den Kader rutschen.
Die Zeichen in der russischen Nationalmannschaft stehen also voll auf Angriff, doch die Defensivambitionen einiger Stürmerstars und die Ausfälle von wichtigen Verteidigern könnten das russische Offensivspektakel jäh beenden. Überdies ist die Ansammlung der russischen Sturm-Diven schon traditionell schwer anfällig für Streitigkeiten in der Kabine. General Manager Pavel Bure meinte aber erst kürzlich, dass Trainer Krikunov die richtigen Leute einberufen hat und erwartet eine großartige Atmosphäre, auch Abseits der Eisfläche.
Die Organisation der Hintermannschaft werden die erfahrenen Offensivverteidiger Andrei Markov (Montreal) und Sergei Gonchar (Pittsburgh) sowie Urgestein Darius Kasparaitis (NY Rangers) und Daniil Markov (Nashville) in die Hand nehmen. Wie im Angriff legt der der russische Headcoach auch in der Defensive großen Wert auf junge, hungrige Spieler. Fedor Tyutin (22) erhält diese Saison sehr viel Eiszeit bei den New York Rangers und auch Anton Volchenkov (23) ist bei den Ottawa Senators fixer Bestandteil der Stammformation. Der Nachnominierte Vitaly Vishnevsky (25) befindet sich aktuell in seiner sechsten NHL-Spielzeit für die Anaheim Mighty Ducks und so bleibt mit dem 22jährigen Denis Kulyash, der einzige Akteur in der Hintermannschaft der noch über keine NHL-Erfahrung verfügt.
Trotz der zahlreichen NHL-Profis leidet die Defensivabteilung doch ein wenig unter den Absagen einiger Schlüsselspieler. Dallas Stars Powerplay-Quarterback Sergei Zubov lehnt, seit dem Olympiasieg mit der GUS 1992, ein Engagement im Russischen Team ab, Alexei Zhitnik (NY Islanders) musste nach einer Knöchelverletzung passen und auch Dmitri Bykov (Dynamo Moskau) erteilte Headcoach Krikunov eine Absage.
Stimmt das Mannschaftsklima bei der Sbornaja und die Stürmer vergessen nicht auf ihre Defensivaufgaben, sind die Russen sicher ein heißer Kandidat auf Olympiagold.
Friday, February 10, 2006
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